Rückblick
Ein unordentliches Jahr
Im Jahr 2020 war Corona das dominierende Thema und 2019 die Zinsen. Aber im Jahr 2021? Gut erging es Ländern, in denen man Corona aus dem Weg gehen konnte und die viele Rohstoffe produzierten. So legte der mongolische Aktienmarkt zwischenzeitlich um 1.200% zu. Aber viele Länder mit dieser sehr spezifischen Kombination gab es nicht. An anderer Stelle setzte sich ein jahrelanges Elend fort, wie etwa bei der türkischen Lira, die über 40% gegenüber dem Euro verlor, da die Theorien des örtlichen Staatspräsidenten zum Zusammenhang von Zins und Inflation den Markt nicht überzeugen konnten. Die Energiesparte von Siemens verlor ein Viertel an Wert, obwohl die Energieversorgung weltweit auf neue Füße gestellt werden muss. Siemens Healthineers hingegen legte etwa 60% zu, obwohl das Geschäft mit den Corona-Tests dort nur einen geringen Teil des Umsatzes bestimmt. Es war ein unordentliches Jahr.
Es war ein Jahr, in dem es nicht ein großes Thema gab, sondern viele konkurrierende. Erstens ist die Covid-19 Pandemie zu nennen, die nun schon fast zwei Jahre lang die wichtigste Triebfeder für den Markt ist. Auf den Absturz im Jahr 2020 folgte ein langanhaltender Aufschwung, der von der Hoffnung auf Impfprogramme und die damit verbundene wirtschaftliche Wiederbelebung genährt wurde. Insbesondere die Kurse der „Corona-Gewinner“ (Impfstoffhersteller und Software-Unternehmen) stiegen bis in den März 2021 rasant an, um dann für den Rest des Jahres fallengelassen zu werden wie eine heiße Kartoffel. Aus der Übertreibung nach oben wurde eine Übertreibung nach unten.
Doch wenn uns die Pandemie eines gelehrt hat, dann, dass die Aktienstrategie eine Sache ist, die Epidemiologie eine andere. Die Entwicklung der Märkte war bis zum Auftreten er Omikron-Variante im November zunehmend vom zweiten großen Thema getrieben, der Inflation. Die Preisrückgänge aus dem Vorjahr haben sich normalisiert: Positive Basiseffekte gegenüber dem Vorjahr sind ausgelaufen. Gestörte Lieferketten verzögerten und verteuerten die Produktion der Endprodukte. Die Energiepreise zogen an. Der Einzelhandel stand bald vor einer Situation, die es schon lange nicht mehr gab: Die Lager waren leergeräumt und es gab keinen Grund mehr, Rabatte anzubieten. Diese Situation verbesserte die Gewinnmargen, führte aber auch zu einem breiten Anstieg der Preise.
Abgesehen von einer Phase steigender Zinsen im ersten Quartal haben die Märkte die steigenden Preise als ein vorübergehendes Phänomen angesehen. Erfahrungsgemäß wird erst ab einer dauerhaften Inflationsrate von über 4% der Preisauftrieb zu einem Problem für die Unternehmen. Auch in diesem Jahr haben die steigenden Unternehmensgewinne haben bewiesen, dass die Unternehmen die höheren Kosten an die Verbraucher weitergeben können, die nach wie vor bereit sind, Geld auszugeben. So war 2021 für Anleihen kein gutes Jahr, wohl aber für Aktien. Das bedeutet aber auch: Wenn der Inflationsdruck in den kommenden Monaten nachlässt, sollten wir keine Erleichterungsrallye erwarten, denn genau das haben die Aktien eingepreist.
Zwei Inflationsraten, eine Geschichte
So sahen sich die Zentralbanken nicht veranlasst, die Zinsschraube anzuziehen. Diese glücklichen Umstände müssen aber nicht auch im nächsten Jahr gelten. Mehr dazu in unserem Ausblick am Ende dieses Berichts.
Ein Grund dafür, dass die Inflation strukturell höher bleiben könnte, ist der Übergang zur Klimaneutralität, ein Ziel, zu dem sich die größten Volkswirtschaften der Welt - von den USA bis Indien - dieses Jahr gemeinsam verpflichtet haben, und welches das dritte große Thema des Jahres darstellte. Höhere Kohlenstoffpreise und Umweltsteuern erhöhen die Produktionskosten für die Industrie, während Unterinvestitionen in fossile Brennstoffe zu einem Anstieg der Energiekosten beigetragen haben, der die Produktion von fast Allem verteuerte.
Auf der anderen Seite schafft die Dekarbonisierung nie dagewesene Anlagemöglichkeiten. Das prominenteste Beispiel ist natürlich Tesla, dessen Aktien seit Anfang letzten Jahres um mehr als 1.000% gestiegen sind. Auf der anderen Seite sind die Aktien vieler grüner Stromproduzenten und ihrer Zulieferer 2021 unter die Räder gekommen. Da die Grünen in der größten europäischen Volkswirtschaft nun an der Regierung sind, könnten Aktien aus dem Bereich der Dekarbonisierung allerdings bald wieder in Mode kommen und einen Aufschwung erfahren.
Das vierte einschneidende Thema war die Entwicklung in China, die in dreierlei Hinsicht die Welt der Wirtschaft in Atem hielt. Erstens verschärfte sich der Handelskrieg mit den USA. Wer gehofft hatte, dass mit dem Einzug Joe Bidens ins Weiße Haus eine Phase der Entspannung eintreten würde, sah sich rüde getäuscht. Die Entflechtung der beiden Wirtschaftsblöcke ist in vollem Gang. Die USA sorgen dafür, dass keine westliche Hochtechnologie nach China exportiert wird, während China den Rest der Welt von seinen Datenströmen abschneidet und die heimischen Unternehmen dazu zwingt, ihre Aktien nur noch an chinesischen Börsen zu notieren. Zweitens hat Peking in diesem Jahr einschneidende Maßnahmen ergriffen, um die Gewinne und die Bewegungsfreiheit von vielen Unternehmen, von Technologieriesen bis Nachhilfelehrern, zu beschneiden. Gleichzeitig machten es die steigenden Produktionspreise den Unternehmen schwer, ihre Gewinnspannen aufrechtzuerhalten, während das Ausbleiben nennenswerter Lockerungsmaßnahmen durch die Zentralbank in den letzten Monaten das Wirtschaftswachstum belastet hat.
Chinesische Offshore-Aktien in Hongkong gehören in diesem Jahr zu den weltweit schlechtesten Werten. Der Nasdaq Golden Dragon China Index fiel seit seinem Höchststand im Februar zwischenzeitlich um mehr als 50%. Der MSCI China Index hat den niedrigsten Stand gegenüber globalen Aktien seit 2006 erreicht. Dies hat aber nicht nur mit der Regulierungswelle zu tun, sondern auch mit der Krise am Immobilienmarkt. Die Einführung von Beschränkungen für die Kreditvergabe an Immobilienentwickler sollte die Abhängigkeit Chinas von diesem Sektor verringern. Dies ist gelungen, allerdings um den Preis der Zahlungsunfähigkeit einer Reihe von Immobilienentwicklern (von denen Evergrande nur der größte ist), deren Geschäftsmodell auf der Verfügbarkeit von billigem Geld basierte. Ein Ende der Pleitewelle in diesem Sektor ist bislang nicht abzusehen.
Fünftens schließlich war die Weiterentwicklung der Möglichkeiten der Blockchain ein immer wiederkehrendes Thema. Non-fungible Tokens (NFT) hielten in der Kunstwelt Einzug. Das soziale Netzwerk Facebook benannte sich in Meta Platforms um, um darauf hinzuweisen, wo es seine Zukunft sieht. Das Metaversum - digitale Welten, in denen Nutzer Kontakte knüpfen, Spiele spielen und Geschäfte abwickeln können – kommt damit immer mehr als eine auch wirtschaftlich relevante Zukunft in den Blick. Schon jetzt kann ein digitales Modell einer Gucci-Tasche, das nur im Universum einer Spieleplattform verwendet werden kann, mehr kosten als die physische Version. Nike verkauft Turnschuhe als NFTs im Metaversum. Die Kurse von Unternehmen wie NVIDIA, deren Produkte zum Aufbau der Infrastruktur des Metaversums unerlässlich sind, legten kräftig zu. Die auf der Blockchain-Technologie basierenden Kryptowährungen kamen zwar auch in diesem Jahr nicht zur Ruhe, aber allen Kursschwankungen zum Trotz haben sie es mittlerweile in den finanziellen Mainstream geschafft.
Diese Themen werden auch im kommenden Jahr eine große Rolle spielen, aber in anderer Zusammensetzung und vielleicht ergänzt durch die ein oder andere schräge Entwicklung. Wie immer präsentieren wir einen volkswirtschaftlichen und einen strategischen Ausblick am Ende dieses Jahresberichts – wie immer sind wir uns bei der Vorschau aber darüber klar, was bei jeder Rückschau offensichtlich wird: Die Welt ist bunt und immer für Überraschungen gut.